Von der Flüchtigkeit des Alltäglichen
Warum malt ein Maler seine Bilder unscharf? Warum fotografiert ein Fotograf seine Motive unscharf? Eigentlich ist es doch das Ziel alles Abbildens, die gesehene Realität so in ein anderes Medium zu übersetzen, dass sie leicht und klar (wieder-) erkennbar ist. Also: fassbar, definierbar, verständlich. Ziel der Kunst allerdings ist es immer gewesen, Elemente des Ungesagten, des Unausgeführten, der Angedeuteten anzubieten. Die Unschärfe erzeugt nämlich Spannung, lädt den Blick des Betrachters ein, zu verweilen.
Dazu kommt die Frage: Ist das, was wir in der Realität sehen, immer verständlich? Erschließt sich uns die Welt immer so, dass wir sie verstehen, fassen, definieren können? Gibt es nicht vielmehr bei unseren Beobachtungen auch viel Unschärfe? Trügt uns nicht oft der Schein?
Die Kunst hat in den vergangenen Jahrzehnten diese Unschärfe für sich entdeckt, zum Beispiel als bewusste Unschärfe, im Gegensatz zu Auslassungen, Verschlüsselungen oder als Andeutungen in früheren Epochen. Sie ist so zu einem probaten Ausdrucksmittel für die Unfassbarkeit, die Vielschichtigkeit, die Multidimensionalität des Lebens geworden, dass man sie praktisch nicht mehr erläutern muss.
Unschärfe, in ihren verschiedenen Ausdrucksformen, beschreibt den Wunsch nach beschreibender Näherung an die Realität, die den Betrachter mit seiner verstehenden Partizipation zum Teil des Werkes werden lässt. Unschärfe verlangt vom Betrachter aber auch, dass er die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten, die ihm im Kunstwerk angeboten werden, aushält. Unschärfe schafft nämlich auch Unsicherheit. Deshalb verlangt sie einen eigenen Standpunkt, will sie nicht in Beliebigkeit aufgelöst werden.
Wolfgang Weiss, der in seinen neuen Werken die Unschärfe als Motto entdeckt hat, bezieht diesen Standpunkt und hält dabei die Unschärfe aus, provoziert sie bewusst, denn sie bietet ihm neue ästhetische Möglichkeiten. Sie schafft ungeahnte und vielleicht für den einen oder anderen auch ungewohnte Bildqualitäten, sowohl in der Fotografie als auch der Malerei.
In der Fotografie wird das Motiv verwischt, feste Strukturen werden aufgelöst und auf ihren Grundsatz reduziert: ein hohes Haus, ein Gehöft oder ein Schuppen, eine Siedlung („Oregon, 2011, Digital- Photografie“), eine Landschaft, eine Sonnenblume („Stills in Motion, Auszug aus der Serie Helianthos, 2011, Digital- Photografie“). Alles gerade so erkennbar. Übrig bleibt also die Essenz, das Wesen des Dargestellten, das in sich wiederum
verschiedene Deutungsmöglichkeiten trägt. Geht es um das Vergehen, bei den Sonnenblumen beispielsweise? Geht es um „das Wohnen“ an sich, in den Bildern „Oregon, 2011, Digital-Photografie“? Oder erleben wir „Veränderung“ im Zeitraffer? '
Das wird besonders deutlich bei den Gemälden, die fast schon fotorealistisch wirken, aber dabei eben unscharf sind.
Die Arkaden des Schiefen Turmes von Pisa („Pisastudie 1, Wachs/Öl/Lwd., 50 x 50 cm, 2008“), obgleich vom Maler nah herangezoomt, wirken leicht, aber nur ganz leicht verschwommen. Die Putte, die davor den Betrachter mustert, ist ebenso verwischt: Sie testen das Auge und den Blick. Wo bin ich hier? Das Fachwerkhaus („Nähe Eschenbach, Öl/Lwd., 40 x40 cm, Privatbesitz“), die Videowand des Museums für Gegenwartskunst Siegen (Carstadt uostairs (MGK Siegen), Öl/Lwd., 40 x 40 cm, 2005 (Bürgerstiftung Siegen)“) oder der Apollo-Vorplatz („Apollo-Theater Siegen, Öl/Holz, 50 x60 cm, 2011“): Sie werden durch die Unschärfe mit Stimmungsbedeutung aufgeladen, die sie über ihre oft nüchterne Erscheinung hinaushebt. Es entstehen Orte der Reduktion auf das Wesentliche, was gerade bei einem so mit „dolce-vita“-Stimmung aufgeladenen Ort wie Pisa zu einer neuen Annäherung an Architektur und Struktur führt.
Ähnliches geschieht bei den Wolkenbildern, die ein weiteres Thema in Wolfgang Weiss‘ Arbeiten sind. Der hohe, bewölkte Himmel über der Frankfurter Skyline (O.T., 100 x120 cm, 2012, erster Zustand) rückt durch die übereinander geschichteten Wolkenfelder die Skyline in den Hintergrund, zieht die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das Nichts der Wolken. Sie sind noch nicht einmal besonders dramatisch aufgeladen, mit Regen oder Sturm, sondern sie rücken, so meint man, durch ihre Unendlichkeit und Unfassbarkeit die scheinbar so solide Skyline mit ihren festgefügten Funktionen in eine menschlich handhabbare Perspektive.
Da, wo der Vordergrund durch Astwerk oder ähnliches zerschnitten wird (O.T. (Nauheim), Öl/Lwd., 50x60 cm, 2012), wird die Brechung der eigenen Sichtweise noch augenfälliger: Vorder- und Hintergrund sind nicht mehr klar trennbar, die Tiefe des Bildes und die Zuordnung geschieht auf Basis der Erfahrung des Betrachters. Und damit wäre man wieder bei der Unschärfe, der man sich stellen muss.
Die „Flüchtigkeit des Alltäglichen“ ist der Gegenpol zum alten Wunsch „Verweile doch!“ Wolfgang Weiss verbindet beides, was nur in der Unschärfe, im Moment des Geschehens gelingen kann.
Dr. Gunhild Müller-Zimmermann